Pythagoras, Bernoulli, Herschel – und doch tappen wir noch immer im Dunkeln. Denn die Antworten auf einige mathematische Probleme liegen seit Urzeiten im Verborgenen. Um endlich Klarheit zu schaffen, begann zum Anbruch des neuen Jahrtausends die Jagd nach Lösungen. Weltweit forschen Wissenschaftler um die Wette: Sie wollen die sieben bedeutendsten Matherätsel knacken.
Es war das Clay-Institut in Cambridge, das im Jahr 2000 neuen Schwung in die Welt der Mathematik brachte. Das Institut im Osten der Vereinigten Staaten von Amerika schrieb sieben Jahrtausend-Probleme aus. Wem es gelingt, eines zu bezwingen, dem winkt ein Preisgeld von einer Million US-Dollar. Und natürlich geht sein Name in die Geschichte ein.
Vielleicht denkst du an den Klimawandel, wenn du von „Millenniumproblemen“ hörst. In Wirklichkeit stecken hinter diesem Begriff aber ungelöste Fragestellungen und Theorien der Mathematik, die bislang nicht bewiesen oder widerlegt werden konnten.
DER REALITÄT AUF DER SPUR
Theorien– das sind Modelle, die versuchen, die Wirklichkeit darzustellen. Also zu erklären, warum und wie etwas ist und wie es sich verhalten wird. Was zum Beispiel mit der Energie eines Autos passiert, wenn es eine Vollbremsung hinlegt. Geht sie einfach verloren? Das beantwortet der Energieerhaltungssatz der Physik. Ersagt dir, dass die Bewegungsenergie nicht verschwindet. Sondern sie wandelt sich in Wärmeenergie um – die Bremsen heizen sich auf. Diese Erkenntnis ist jedoch nicht selbstverständlich. Es gab eine Zeit, da wurde der Energieerhaltungssatz aufgestelltund man war sich überhaupt nicht sicher, ob er immer gilt.
Das wurde lange Zeit geprüft, und nur deshalb darfst du ihn heute ohne Bedenken anwenden. Genauso ist das mit allen Formeln. Denn natürlich gibt es in der Welt der Wissenschaft unvorstellbar viele Theorien über alle möglichen Dinge. Über riesige Planeten bis zu winzig kleinen Atomen. Wie du jetzt allerdings weißt, reicht es nicht, nur zu forschen undAussagen zu formulieren. Was unbedingt geliefert werden muss, ist ein mathematischer Beweis. Erst dann gelten Formeln und Theorien als wahr.
DES RÄTSELS LÖSUNG
Deshalb hatten zwar viele kluge Köpfe eine Idee, wie man eines der sieben Jahrhundert-Probleme lösen könnte, aber sie konnten sie nicht fehlerfrei belegen. Keine Rechnung aufstellen, die ihre Vermutung beweist. Dennoch ist einem Einzigen gelungen, woran sich zahlreiche Wissenschaftler die Zähne ausgebissen haben. Der Russe Grigorij Perelman hat eines der Rätsel gelöst: Die Poincaré-Vermutung. Genius erklärt dir, worum es dabei geht.
POINCARÉ-VERMUTUNG
Angenommen du wärst eine Ameise, die auf einer großen Kugel sitzt. Für dich sieht die Fläche dann aus, als sei sie nur eine Ebene. Du kannst nicht sehen, dass sie kugelförmig ist, weil du zu winzig bist. Läufst du aber mutig los, stellst du fest, dass gar kein Rand kommt und du irgendwann wieder am gleichen Ausgangspunkt landest. Die Fläche ist also nicht unendlich groß. Sie hat aber auch kein Ende, sonst wärst du an einer Stelle heruntergefallen. Deshalb muss sie auf jeden Fall eine Kugel sein. Oder nicht? Die Mathematik sieht das anders. Zum Beispiel könnte es sich auch um einen Torus handeln. Das ist die Oberfläche eines Autoreifens, der in der Mitte ein Loch hat. Oder anders gesagt ein Donut. Auch auf diesem würdest du als Ameise die Ebene als “geschlossen“ wahrnehmen. Denn du würdest auch hier einmal herumlaufen können, bis du wieder am Startpunkt landest.
Du willst also herausfinden, um was für eine Form es sich nun handelt? Dazu müsstest du ein Lasso um die „Welt“ spannen und dann an beiden Enden ziehen. Lässt sich das Seil zusammenziehen? Dann lebst du auf einer kugelähnlichen Welt. Das Lasso gleitet nämlich über die runde Oberfläche, während du von beiden Seiten ziehst.Würdest du nicht auf einer Kugel, sondern einem Torus sitzen, würde das Seil beim Ziehen irgendwann stoppen. Denn dann hättest du das Lasso durch das Loch in der Mitte gefädelt.
Diese Eigenschaft mit dem stets zusammenziehbaren Lasso nennen die Mathematiker „einfach zusammenhängend“. Man kann also sagen: Die Figur auf der du sitzt, die Kugel, ist einfach zusammenhängend. Sie hat kein Loch. Von dieser Überlegung aus dachte Henri Poincaré, der Namensgeber der Vermutung, weiter. Eigentlich sind wir Menschen im Weltall auch wie kleine Ameisen – aus unserer Sicht ist die Welt ein unendlicher Raum.Ist sie eine Kugel, eine Scheibe, ein Schlauch oder welche Form hat sie? Das können wir nicht durch bloßes Nachschauen prüfen. Dafür sind wir ja viel zu klein. Und ein Lasso können wir auch nicht herumspannen und dann ziehen.Also müssen wir es durch Überlegungen herausfinden.
ZAHLEN FORMEN FIGUREN
Genau das wollte Henri tun und stellte seine Vermutung auf: Alle Räume, die einfach zusammenhängend sind, also kein Loch haben,sind Kugeln. Nur beweisen konnte man das damals, im Jahr 1904, noch nicht. Ganze 98 Jahre später kam dann die Schocknachricht aus St. Petersburg: Perelman hat das Jahrhundert-Problem gelöst. Er hat einen Weg gefunden, aus jeder Figur, die kein Loch hat, eine Kugel zu „errechnen“. Also genau das zu beweisen, was Henri vermutet hatte. Mit Hilfe von Rechnungen kann er alle Objekte rund machen –durch schrumpfen, stauchen oder aufblasen. Man spricht auch vom „Deformieren“. Selbst aus einer Pyramide lässt sich durch Rechnungen eine Kugel deformieren. Oder stell dir vor, du pumpst ganz viel Luft in einen Würfel – er wird kugelförmig. Somit ist Poincarés Vermutung belegt: Jeder einfach zusammenhängende Raum ist eine Kugel. Kannst du dir vorstellen, welche Bedeutung so eine bewiesene Theorie hat? Sie wirkt wie eine Zauberbrille, mit der wir die Eigenschaften der Welt, in der wir leben, erkennen können. Unsere Fähigkeit, etwas herauszufinden, hat dank der Mathematik keine Grenzen mehr.
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Stand: Mai 2016
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